Dort, wo fünfundzwanzig Jahre lang mein Kanzleischild hing – gut sichtbar für Mandantinnen und Mandanten, für Nachbarn, für Passanten – hängt jetzt eine schwarze Folie. Mit einfachen Kordeln befestigt, spannt sie sich über den Rahmen wie ein Vorhang. Kein Name mehr. Keine Berufsbezeichnung. Kein Hinweis auf das, was hier einmal war.
Diese Abdeckung ist kein Zufall. Sie ist bewusst gewählt. Sie ist nicht das Ergebnis eines Umzugs, keiner Renovierung und auch keiner Übergangsphase. Sie ist Ausdruck eines Entschlusses: Ich beende meine Tätigkeit als Rechtsanwalt.
Doch dieser Schritt geschieht nicht im luftleeren Raum. Er ist Teil eines größeren Zusammenhangs – einer gesellschaftlichen Entwicklung, die mich beunruhigt, ja sogar erschüttert. Seit Jahren beobachte ich eine Erosion des Vertrauens in den Rechtsstaat. Die Vermischung von politischen Interessen, ökonomischen Zwängen und juristischen Instrumenten hat Formen angenommen, die ich mit meinem Gewissen nicht mehr mittragen will. Ich habe Prozesse geführt, die rechtsförmig waren, aber nicht gerecht. Ich habe erlebt, wie Gesetze an ihrer ursprünglichen Intention vorbeiangewenden wurden – manchmal leise, manchmal mit Ansage.
In diesen Tagen legt das Bundesamt für Verfassungsschutz neue Berichte vor. Sie sprechen von Bedrohungen für die Demokratie, von Radikalisierung, von extremistischen Tendenzen. Und doch frage ich mich: Was ist mit den Bedrohungen aus der Mitte? Was ist mit der schleichenden Verschiebung dessen, was noch als „normal“ gilt? Was ist mit dem Verlust von Debattenkultur, mit dem Verdacht gegen Andersdenkende, mit dem Unwillen, offene Fragen auszuhalten?
Ich habe mich entschieden, nicht zu schweigen – aber auch nicht zu schreien. Stattdessen habe ich ein Bild geschaffen. Ein Schild, das schweigt. Ein Schild, das verdeckt. Ein Symbol für eine Zeit, in der Recht zwar noch existiert, aber nicht mehr sichtbar ist – weil es im Dickicht der Interessen, der Machtspiele und der Verschleierung verloren gegangen ist.
Die schwarze Folie ist nicht nur ein Abschied. Sie ist auch eine Einladung zur Reflexion. Was bedeutet Recht für uns? Für wen gilt es wirklich? Und: Wo sind die Orte, an denen wir noch an Gerechtigkeit glauben können?
Ich habe einen dieser Orte für mich gefunden: in der Schule. Dort unterrichte ich inzwischen. Dort begegnet mir das Leben in seiner rohen, ungeformten Kraft. Dort ist noch nicht alles festgelegt. Und dort versuche ich, das zu leben, was ich im Gerichtssaal immer mehr vermisste: Menschlichkeit, Verantwortung, Wahrheitssuche.
Vielleicht wird das Schild irgendwann entfernt. Vielleicht wird es ersetzt. Vielleicht bleibt es so – ein Denkmal im Vorübergehen. Für mich aber ist es jetzt schon mehr als nur ein abgedeckter Name. Es ist ein Zeichen, ein Kunstwerk. Ein stiller Protest. Und ein neues Kapitel.
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