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Warum ich vom Rechtsanwalt zum Grundschullehrer wurde – und was das mit gesellschaftlichem Wandel zu tun hat

2014 wurde ich als Neuland-Gewinner der Robert Bosch Stiftung ausgezeichnet. Ich hatte Projekte entwickelt, die sich mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Problemen beschäftigten – vor allem mit dem Geldsystem, Fragen demokratischer Teilhabe und der Rolle zivilgesellschaftlicher Bewegung. Ich wollte Veränderung anstoßen – nicht theoretisch, sondern praktisch, konkret, erfahrbar.
Zugleich arbeitete ich über 25 Jahre als Rechtsanwalt. Ich kannte die Spielregeln des Systems, konnte sie analysieren und anwenden. Ich wusste, wie Sprache Realität schafft, wie Recht schützt – aber auch, wie es an Grenzen stößt, wenn Haltung fehlt.
Doch irgendwann stellte ich mir eine einfache, unbequeme Frage: Wo beginnt eigentlich Veränderung wirklich?

Vom Systemdenken zur Beziehungsarbeit

Meine Antwort führte mich überraschend weit weg von Gerichten, Paragraphen und politischem Diskurs – und mitten hinein in ein Klassenzimmer einer Grundschule.
Heute unterrichte ich eine dritte Klasse. Und ich glaube: Ich wirke dort wirksamer und nachhaltiger als in mancher Podiumsdiskussion oder Gerichtsverhandlung.
Denn was ich täglich erlebe, ist nichts Geringeres als die Wurzel unserer Gesellschaft: die Kindheit. Hier entsteht, was später Haltung genannt wird. Hier entscheidet sich, ob Menschen Verantwortung übernehmen können. Ob sie Mitgefühl entwickeln. Ob sie lernen, die Welt als gestaltbar zu begreifen.

Die Schule, die Schulklasse als sozialer Organismus

Ich sehe meine Klasse nicht als Gruppe von Lernenden, sondern als lebendigen Organismus. Ein feines Gewebe aus Beziehung, Rhythmus, Entwicklung und Spannung. Kinder, Eltern, Kolleg*innen und ich selbst – wir sind Teil eines Ganzen, das sich täglich neu formt.
Diese Sichtweise ist inspiriert von Joseph Beuys und seiner Idee der Sozialen Plastik. Ich habe diesen Gedanken weitergedacht: Die Schule ist für mich ein Organismus des Lernens, der Menschlichkeit, der Verantwortung. Und genau dort setze ich an. Eine Rose im Messzylinder inspiriert. Ein Plüschhase vor dem Kamishibai ruft Fragen hervor. Offene Gespräche über Gerechtigkeit, über Geld und Werte, über Angst und Mut. All das gehört zu meinem Unterricht – weil ich glaube, dass Bildung nicht nur Wissen vermitteln, sondern Beziehungen zu unserer Umwelt, den Mitmenschen und in die Gesellschaft ermöglichen muss.

Ein Weg aus der Krise

Unsere Gesellschaft steht an einem Wendepunkt. Die Schule spiegelt viele ihrer Probleme: Überforderung, Spaltung, Sinnverlust. Aber sie ist auch ein Ort der Hoffnung – wenn wir ihn ernst nehmen.
Ich habe mich bewusst dafür entschieden, nicht mehr nur von außen zu wirken, sondern von innen. Nicht in der Distanz des juristischen Denkens, sondern in der Nähe menschlicher Begegnung. Ich arbeite heute nicht mit Akten, sondern mit Vertrauen. Nicht mit Urteilen, sondern mit Fragen.
Der Weg vom Rechtsanwalt zum Lehrer war kein Rückzug – er war ein Vorstoß. Hin zum Menschlichen. Zur Quelle. Zur Zukunft.
Und ja – es gibt Momente, da erscheint mir dieser Wechsel radikal. Aber wenn ich morgens das Klassenzimmer betrete, die Kinder mich ansehen, Fragen stellen, lachen, manchmal auch weinen – dann weiß ich: 
Ich bin genau da, wo ich im Moment sein soll.




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